Didaktische Vorschläge für Migrations- und Alteritätserfahrungen als Wahrnehmung des Fremden

Literatura

Didaktische Vorschläge für Migrations- und Alteritätserfahrungen als Wahrnehmung des Fremden

Didactical Guidelines for Experiences of Migration and Alterity as a Perception of The Foreign

Isabella Leibrandt
Universidad de Navarra, Pamplona, Spain

Revista de Filología y Lingüística de la Universidad de Costa Rica

Universidad de Costa Rica, Costa Rica

ISSN: 0377-628X

ISSN-e: 2215-2628

Periodizität: Semestral

vol. 47, num. 1, 2021

filyling@gmail.com

Empfangen: 03 Februar 2020

Akzeptiert: 14 Mai 2020



DOI: https://doi.org/10.15517/rfl.v47i1.44402

Resümee: Mit Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen soll eine Lektüreerfahrung mit Deutschlernern geteilt werden, anhand derer bedeutende Themen wie Migration, Fremdheit und das ethische Schreiben zur Sprache kommen. Die Autorin konfrontiert den Leser narrativ mit der aktuellen Situation der Flüchtlinge in Deutschland und zeigt dabei eine interkulturelle Begegnung zwischen Menschen, die sich trotz Fremdheit und Andersheit näherkommen und kennen lernen. In diesem Kontext ist auch eine vielschichtige Wahrnehmung des Lesers beabsichtigt, die eine Bereitschaft einschließt, über die Beziehungen des Fremden und des Eigenen nachzudenken und daraus über sich selbst zu lernen. Deshalb wird hier die pädagogische Rolle der Migrationsliteratur herausgestellt, die schließlich zu einer Selbstreflexion führen soll, wenn sie sich sowohl mit dem kulturell Fremden als auch mit dem eigenen Fremden kritisch auseinandersetzt. Der Lerner als Leser wird so auf vielfache Weise zu einem Perspektivenwechsel herausgefordert. Der besprochene Roman dient hier, um aus didaktischer Perspektive auf bestimmte Forderungen einer transkulturellen Literaturdidaktik in Anbetracht von theoretischen Positionen einer derzeitigen Literaturethik einzugehen. Den Abschluss bilden einige didaktische Vorschläge, die durchaus auch auf andere ähnliche Werke angewandt werden können.

Schlüsselwörter: Literaturdidaktik, Ethik, Migrationsliteratur, Fremdheit, Transkulturalität.

Abstract: With Jenny Erpenbeck's novel To go, Went, Gone we share a reading experience with students of German as a foreign language that addresses significant issues such as migration, strangeness and ethical writing. The author confronts the reader narratively with the current situation of refugees in Germany and shows an intercultural encounter between people, who, despite their foreignness and otherness, come closer and get to know each other. In this context, a multi-layered perception of the reader is also intended, which includes readiness to reflect on the relationship between the foreign and the own, and to learn about oneself. Therefore, the pedagogical role of migration literature is emphasized here, which should ultimately lead to self-reflection, when it critically deals with both the culturally foreign and one's own foreign. The learner as a reader is thus challenged to a change of perspective in many ways. The novel discussed here serves to address, from a didactic perspective, certain demands of the transcultural literary didactics in the light of theoretical positions of the current literary ethics. The article concludes with some didactic suggestions that can be certainly applied to other similar works.

Keywords: didactics of literature, ethics, migration literature, strangeness, transculturality.

1. Fremdheitserfahrungen durch die Leser-Erzähler Kommunikation

Im Roman Gehen, ging, gegangen als Beispiel für die gegenwärtige Migrationsliteratur wird der Leser mit der Erfahrung der Fremdheit in vielfältiger Weise konfrontiert. Erpenbeck ergründet auf diese Weise diejenigen Ereignisse, die außerhalb jeder Ordnung liegen, die das Gewohnte und Bekannte, den Gang der Dinge, auch die Raum- und Zeitordnung durchbrechen. Die Normalität in der eigenen Welt wird der Welt der Anderen entgegengesetzt, wobei das eine Mal das Verhalten der Anderen, das andere Mal unser eigenes Verhalten als Anomalie erscheint. Die narrative Stimme gehört einer personalen Erzählerperspektive, durch die die Autorin eine erkennbare Leser-Erzähler Kommunikation sucht. Es handelt sich um eine Narration, in der die Grenzen zwischen fiktionalen und faktualen Beschreibungen verschwimmen, wodurch ein neuer Begriff von Authentizität in der Literatur sich zu etablieren scheint. Nicht nur der Blick auf das Fremde von uns aus gesehen, also dem einheimischen Protagonisten wird beschrieben, sondern der Leser wird aufgefordert, Stellung zu dem Gelesenen zu beziehen, denn über den Erzähler bietet die Autorin ein Gespräch an, durch das der Leser zu Reflexionen über das Fremde geführt wird und der Text auf diese Weise ein Sinnangebot macht. Daraus resultiert ein wichtiger Lernprozess mit Fremdheit, in dem sich ein neuer Sinn bildet und artikuliert. Der Leser entwickelt auf diese Weise eine Empathie und ein Verständnis, wenn er sich in die individuelle Situation eines Flüchtlings hineindenkt und Migration nicht nur anhand von Zahlen kennenlernt, sondern Flucht aus Krisen- oder Kriegsgebieten und die Hoffnung auf eine bessere Arbeit von einzelnen Erzählern erlebt. Diese Art von Fremdheitsbegegnung bezieht das Erkennen, Verstehen und auch Anerkennen des Fremden mit ein. Genauso flicht sie affektive Widerfahrnisse wie das Erstaunen oder Verunsichert sein ein, vermittelt aber immer Störungen und Anomalien, die von der eigenen Normalität abweichen wie Erpenbeck es anhand ihrer Hauptfigur auf diese Weise in Worte fasst:

Vieles von dem, was Richard an diesem Novembertag, einige Wochen nach seiner Emeritierung, liest, hat er beinahe sein ganzes Leben über gewusst, aber erst heute, durch den kleinen Anteil an Wissen, der ihm nun zufliegt, mischt sich wieder alles anders und neu. Wie oft muss einer das, was er weiß, noch einmal lernen, wieder und wieder entdecken, wie viele Verkleidungen abreißen, bis er die Dinge wirklich versteht bis auf die Knochen? Reicht überhaupt eine Lebenszeit dafür aus? Seine – oder die eines andern? (Erpenbeck, 2017, p. 177).

Mit Autoren (Waldow, 2013; Waldenfels, 1997; Münkler, 1997), die sich in den letzten zehn Jahren mit Fremdheit als Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung befasst haben, möchte ich zunächst auf die Thematisierung dieser grundlegenden Erfahrung und Wahrnehmung in Form von Begegnung mit dem Anderen eingehen. Waldenfels bietet dazu eine nützliche Topographie des Fremden an, sowie wichtige sprachliche Unterscheidungen, die das Wesen der Fremdheitserfahrung ausgehend vom Deutschen im Vergleich zum Spanischen unterschiedlich zum Ausdruck bringen:

Fremd ist, was außerhalb des eigenen Bereichs vorkommt (externo, extranjero) und was in der Form von Fremdling personifiziert wird. Als fremd erscheint, was von fremder Art ist und als fremdartig gilt (insólito, extraño). Es sind also die Aspekte des Ortes, des Besitzes und der Art, die das Fremde gegenüber dem Eigenen voneinander variieren. Fremdes ist nicht einfach ein anderes (otro). (Waldenfels, 1997, p. 20).

Literarische Texte, die Migrationserfahrungen thematisieren, bringen dem Leser Alteritätserfahrungen nahe, indem Fremdheit inszeniert wird. Dadurch werden auch die eigenen Wahrnehmungen und Erfahrungen beim Lesen reflektiert und eventuell in Frage gestellt. Das Fremde weckt auf der einen Seite ungewöhnliche und befremdliche Erfahrungen, macht aber deutlich, dass was als 'fremd' definiert wird, von subjektiven Erlebnissen und Kriterien abhängt, die relativ, perspektivisch und standortgebunden, d.h. stark von der eigenen Kultur geprägt sind. Im weitesten Sinne handelt es sich daher bei der Fremdheitserfahrung um den Kontrast zwischen Eigenem und Fremden, wobei als fremd das gilt, was aus der jeweiligen kollektiven Eigenheitsspähre ausgeschlossen und von der kollektiven Existenz getrennt ist, was also nicht mit Anderen geteilt wird. Fremdheit bedeutet in diesem Sinne Nichtzugehörigkeit zu einem Wir. Im Roman Gehen, ging, gegangen begegnen wir bestimmten Formen von Fremdheit aus beiden Perspektiven, die Jenny Erpenbeck (2017) dem Leser anhand von zahlreichen Beispielen in ihrer Perspektivgebundenheit bildlich vor Augen führt. Die Hauptfigur Richard als Einheimischer und die afrikanischen Flüchtlinge werden sich dieser Befremdung anhand zahlreicher Situationen bewusst, wenn es um ihnen fremde Feste, die fremde Sprache oder ein fremdes Ritual, deren Sinn und Funktion ihnen verschlossen war, sowie die eigene Unwissenheit geht:

Zu Eid Mubarak versöhnt man sich mit allen, mit denen man das Jahr über Streit hatte, sagt Raschid. Man besucht die Familie. Spendet für die Armen. Kennst du die fünf Säulen des Islam? Richard schüttelt den Kopf. (Erpenbeck, 2017, p. 107).

Von der Oberbaumbrücke zum Alex. Sankt Martin, Sankt Martin, Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind, sein Ross, das trug ihn fort geschwind. Sankt Martin ritt mit leichtem Mut, sein Mantel deckt ihn leicht und gut. Im Jahr 2000 fiel der traditionelle Laternenumzug der Kinder in der nigeriamischen Stadt Kaduna, von deren Existenz Richard erst seit zwei Wochen weiß, am Abend von Eid Mubarak aus. Beim letzten Laternenumzug zu Sankt Martin waren die hiesigen Kinder singend um den Schlossplatz gezogen. (ibid., pp. 112-113).

Zum ersten Mal kommt ihm der Gedanke, dass die von den Europäern gezogenen Grenzen die Afrikaner eigentlich gar nichts angehen. Kürzlich hat er, als er die Hauptstädte gesucht hat, wieder die schnurgeraden Linien im Atlas gesehen, aber erst jetzt wird ihm klar, welche Willkür da sichtbar wird an so einer Linie. (ibid., p. 66).

Diese Facetten der Fremdheitserfahrung aufgrund von Unkenntnis erweitert Münkler, indem er zwischen Fremdheit im Sinne von Nichtzugehörigkeit und Fremdheit im Sinne von Unvertrautheit unterscheidet. Im ersten Falle handele es sich um eine soziale, im zweiten um eine kulturelle Fremdheit, wofür er folgende Definition vorschlägt:

Soziale Fremdheit liegt vor, wenn die Nichtzugehörigkeit des anderen als solche ins Zentrum der Aufmerksamkeit tritt. Fremdheit in dieser Dimension ist das Ergebnis einer exkludierenden Grenzziehung. Von ‚innerer‘ Fremdheit sprechen wir, wenn eine formal zugehörige Person oder Gruppe sich nicht zugehörig fühlt oder wenn die übrige Gesellschaft zu ihr auf Distanz geht. In der kulturellen Dimension steht das Fremde für das kognitiv wenig Bekannte. Die Erfahrung kultureller Fremdheit zeigt uns die Grenzen unseres Verständnisvermögens und führt uns die Kontingenz unserer Erwartungen vor Augen. Soziale Fremdheit wird aufgelöst durch Inklusion, kulturelle Fremdheit durch Lernen. (Münkler, 1997, p. 13).

In diesem Zusammenhang kommt auch das Konzept der Interkulturalität und Transkulturalität zur Sprache bezogen auf die Interaktion zwischen Kulturen. Interkulturelle oder Migrationsliteratur strebt in dem Sinne danach, einen Kontakt bzw. Diskurs zwischen den Kulturen herzustellen, z.B. indem dem Leser mit Hilfe eines literarischen Textes eine andere Kultur, aber auch das Schicksal und die Fremdheitserfahrungen von Migranten vermittelt werden. Im Mittelpunkt steht das durch Migration bedingte Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen, ihre teilweise gegenseitige Unkenntnis und die damit verbundenen Verständnisprobleme wie dieses Gespräch zwischen Richard und einem jungen Flüchtling dem Leser vor Augen führt:

Weißt du, dass hier früher Osten war? – East? Wahrscheinlich ist die Frage für jemanden, der aus Niger kommt, falsch gestellt, denkt Richard und versucht es noch einmal: Weißt du, dass es in Berlin einmal eine Mauer gab, die den einen Teil der Stadt vom anderen getrennt hat? I don’t know. Einige Jahre nach dem Krieg wurde sie hier gebaut. Weißt du, dass es hier einmal Krieg gab? No. Einen Weltkrieg? No. Hast du den Namen Hitler schon einmal gehört? Who? Hitler, der den Krieg begonnen und all die jüdischen Menschen umgebracht hat? He killed people? Ja, er hat Menschen getötet – aber nur ein paar, sagt Richard schnell, denn schon tut es ihm leid, dass er sich beinahe dazu hätte hinreißen lassen, diesem Jungen, der gerade vor dem Schlachten in Libyen geflohen ist, vom Schlachten hier zu erzählen, dass in Deutschland, gerade mal ein Lebensalter entfernt, das fabrikmäßige Ermorden von Menschen erfunden wurde. Er schämt sich dafür plötzlich so sehr, als sei das, was jeder hier in Europa weiß, sein ganz persönliches, niemandem auf der Welt zumutbares Geheimnis. – Deutschland is beautiful. (Erpenbeck, 2017, p. 149).

Durch die literarische Darstellung von Migration und damit verbundenen Themen wie Grenzerfahrung, Identität und Fremdheit werden Migrationsproblematiken vergegenwärtigt. Zum Ausdruck kommt die Kluft zwischen den Einen und den Anderen, das ungeheuer Fremde, das eben dadurch auch Befremdende und Beunruhigende dieser Begegnungen. Richard befasst sich immer intensiver mit den Flüchtlingen, unterstützt sie und gibt ihnen Deutschunterricht und so wird auch der Leser mit dem konkreten Fremden, der Situation der jungen Männer immer vertrauter oder möchte mehr herausfinden und wundert sich auch immer wieder über viel Nonsens. Die Afrikaner dürfen nicht arbeiten und nicht reisen. Die deutsche Bürokratie und die Gesetzgebung der Europäischen Union verdammen sie zum Nichtstun. Sie hocken perspektivlos aufeinander, die einen mehr, die anderen weniger geduldig. Und manche auch mit der Bereitschaft, das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen, notfalls mit Gewalt. Abends schreibt Richard die Lebensgeschichten auf, z. B. über das Nomadenleben der Tuaregs, die die Männer ihm bereitwillig anvertrauen. Anhand von Interviews werden individuelle Schicksale vermittelt, die durch Flucht oder Vertreibung aus dem Heimatdorf, Wanderungen quer durch Afrika, erlebte Brutalität oder Hilfsbereitschaft, erlittene Verluste an Eltern, Geschwistern, Freunden, die nächtlichen Bootsfahrten über das Mittelmeer, bei denen wiederum viele sterben, geprägt sind. Parallel zur Geschichte der Kriegsflüchtlinge taucht immer wieder die deutsche, vor allem die ostdeutsche Geschichte als Erinnerung an Flucht und den Neuanfang auf, die zeigt, dass vor allem die DDR-Deutschen auf der anderen Seite der Mauer die Erfahrung des Systemwechsels und der Fremdheit vor noch gar nicht langer Zeit ebenfalls erlebt haben, wenn ein System vollkommen verschwindet, in kultureller, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht. So zeigt sich, dass das Eigene ebenso mit Fremdem durchsetzt ist. Es drängen sich existenzielle Fragen nach der Identität auf, die Richard in Hinblick auf die Flüchtlinge verbindet, das Nachdenken darüber, wie frei jemand in Wahrheit ist, und wie willkommen oder nicht so ein Drang nach Freiheit ist:

Seine Freunde machen sich über ihn lustig, weil er sich immer noch weigert, mit dem Auto ins Zentrum zu fahren. Aber seit die Mauer weg ist, kennt er sich dort nicht mehr aus. Seit die Mauer weg ist, ist die Stadt doppelt so groß und hat sich so sehr verändert, dass er jetzt oft nicht einmal weiß, an welcher Kreuzung er steht. Als er den Bahnhof nach dem Mauerfall dann zum ersten Mal wiedersah, waren die nach Osten führenden Gleise von hohem Gras überwuchert. (Erpenbeck, 2017, pp. 40-41).

Der Krieg zerstört alles, sagt Awad: die Familie, die Freunde, den Ort, an dem man gelebt hat, die Arbeit, den Alltag. Wenn man ein Fremder wird, sagt Awad, hat man keine Wahl mehr. Man weiß nicht, wohin. Man weiß nichts mehr. Ich kann mich selbst nicht mehr sehen, das Kind, das ich war. Ich habe kein Bild mehr von mir. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Ein Fremder werden. Sich selbst und den andern. So also sah ein Übergang aus. [...] Richard hat Foucault gelesen und Baudrillard und auch Hegel und Nietzsche. Aber was man essen soll, wenn man kein Geld hat, um sich Essen zu kaufen, weiß er auch nicht. (ibid., p. 80).

Im hier untersuchten Text, der sich mit Fragen nach der kulturellen Andersheit auseinandersetzt, wird wie wir sehen, auch der eigene kulturelle Hintergrund einer Überprüfung unterzogen, da die Lebensgeschichte des Protagonisten mit kontinuierlichen Fremdheitserfahrungen durchzogen ist. Aber erst die Fremdheitserfahrung mit den Migranten bewirkt bei Richard eine Auseinandersetzung mit seiner eigenen kulturellen Fremdheit. Erst die Begegnung mit den Anderen führt dazu, die eigene Geschichte zu rekonstruieren und seine eigene Identität zu konstruieren. Unzählige Fragen werden an Richard gerichtet, stellt er sich selbst und damit dem Leser zur Reflexion und Auseinandersetzung mit existenziellen Fragestellungen: Wer ist man, wenn man alle die Dinge verloren hat, die vorher das Leben ausgemacht haben? Die Familie, den Ort, die Arbeit, das Umfeld, die Heimat. Wer ist man, wenn man nach Deutschland kommt und nur noch als Flüchtling gesehen wird? Was war eigentlich, bevor Luther kam, an der Stelle, an der sich seither das schlechte Gewissen breitgemacht hat? Wenn eine ganze Welt, die man nicht kennt, auf einen einstürzt, wo fängt man dann an mit dem Sortieren? Was man verstehen will, was einer meint oder sagt, muss man im Grunde das, was er meint oder sagt, immer schon wissen. Ist dann ein gelungener Dialog nur ein Wiedererkennen? Und das Verstehen nicht etwa ein Weg, sondern vielmehr ein Zustand? In welchen Zeiträumen muss man messen, wenn man wissen will, was Fortschritt genannt werden kann? Waren auch die beiden Gruppen von Menschen, die sich hier gegenüberstanden, so etwas wie die zwei Hälften eines Universums, die eigentlich zusammengehörten, und deren Trennung dennoch unüberwindlich war? War der Graben zwischen ihnen tatsächlich bodenlos tief und entfesselte deshalb so heftige Turbulenzen? Und verlief er zwischen Schwarz und Weiß? Oder zwischen Arm und Reich? Oder zwischen Fremd und Freund? Wie viele Grenzen gab es überhaupt in einem Universum? Anders gefragt, was war die wirkliche, eine, entscheidende Grenze?

Im Zusammenhang mit dieser Art von Fremdheitsbegegnungen möchte ich deshalb mit Waldow (2013, pp. 24-199) auf das ethische Schreiben und die sprachliche Begegnung mit dem Anderen eingehen. Ethik ist hier an den sprachlichen Akt gebunden und führt zu einer Auseinandersetzung mit der Andersheit des Anderen und der eigenen Fremdheit. Deshalb geht Waldow auf die Trias Autor, Text und Leser ein, wenn sie jenes Gesprächsangebot in gegenwärtigen Texten als Appell an den Leser sieht, der nun aufgefordert wird, sich mit den Positionen des Erzählers auseinanderzusetzen. Durch die Erfahrung mit dem Text wird auf diese Weise ein Aushandlunsprozess angestoßen, durch den der Leser angehalten wird, im Diskurs Position zu beziehen. Waldow sieht bezüglich der allgemeinen kulturellen Begegnung mit dem Anderen, zu der auch die spezifische Begegnung mit Texten und Redeweisen gehört, einen wichtigen Erfahrungsaustausch, der schließlich im Unterricht auch eine Diskussion über Werte und Normen anregen kann:

Das Ich stellt die Wahrheit seiner selbst stets in Frage und muss immer wieder von Neuem ansetzen, diese Wahrheit zu generieren, indem das Subjekt von sich selbst fortlaufend Rechenschaft ablegt. Dieser Umstand macht das Subjekt zu einem ethischen Subjekt, denn die Verantwortung des Subjekts ist nicht an die Vorstellung eines sich selbst vollkommen transparenten Selbst gebunden. Verantwortung für sich selbst zu übernehmen bedeutet, sich der Leerstelle des Ursprungs bewusst zu sein und diese als Bedingung des Subjektseins anzuerkennen. (Waldow, 2013, pp. 41-42).

Wie Waldow zu recht herausarbeitet, haben wir es neuerdings wieder mit gegenwärtigen literarischen Texten zu tun, die einen selbstreflexiven Umgang mit dem Anderen zum Gegenstand haben. Die so verstandene ethische Begegnung mit dem Anderen liest sich demzufolge auch als Erschließung neuer sinnlicher Erfahrungsräume.

2. Narrative Ethik als Dialogangebot

Der Roman Gehen, ging, gegangen von Jenny Erpenbeck steht beispielgebend für eine neue Generation von Texten, die wie dargestellt, sich auf die Suche nach dem Subjekt machen und somit laut Waldow (2013, pp. 11-21) auch für eine Beendigung des postmodernen Nihilismus stehen. In ihrer Publikation Schreiben als Begegnung mit dem Anderen betrachtet die Autorin deshalb das Schreiben als eine existentielle Aufgabe, mit der der Schreibende sich selbst und seine Leser wieder in die Verantwortung nimmt, um eine weltanschauliche Position beziehen zu müssen. Im Gegensatz zur postmodernen Beliebigkeit nehme der neue Typus des Schriftstellers lustvoll an der Gesellschaft teil und wisse diese Anteilnahme in sinnlicher Form zu reflektieren. Damit sei eine neuerliche Zusammenführung von Ethik und Ästhetik entstanden, wobei die Authentizität, die unmittelbar mit dem Erfahrungs- und Wahrnehmungshorizont verbunden ist, im Mittelpunkt steht. Erpenbecks faktisch fiktionale Erzählung wendet sich deutlich vom postmodernen Spielcharakter ab und die Autorin nutzt zahlreiche Momente im Verlauf der Handlung für eine ethische Reflexion der Lebenswelt:

Als Kind hat er gelernt, was Not ist. Aber deswegen muss er nicht, nur weil ein Verzweifelter heutzutage einen Hungerstreik macht, gleichfalls verhungern. Sagt er sich. Helfen würde das auch nicht dem, der den Hungerstreik macht. Und ginge es dem so gut wie ihm, würde der genauso beim Abendbrot sitzen und essen. Bis ins Alter hinein ist er damit befasst, das protestantische Erbe seiner Mutter abzuschütteln, den Grundsatz der Reue. Von den Lagern aber hat sie auch nichts gewusst. Angeblich. (Erpenbeck, 2017, p. 28).

Glaubst du an Gott? Richard sagt: Eigentlich nicht. Und das eigentlich ist schon ein Kompromiss. – Ich verstehe nicht, wie jemand nicht an Gott glauben kann, sagt der Junge. Wenn du in Not bist, glaubst du an Gott. Wenn ich krank bin, dann macht mich nicht das Krankenhaus gesund, sondern Gott. Gott hat mich gerettet, sagt er, mich hat er gerettet, aber die anderen nicht. Also muss er doch irgendetwas mit mir vorhaben, oder? (ibid., p. 127).

Die Textstelle zeigt, dass nicht nur die Figur, auch der Leser aufgefordert werden, Haltung einzunehmen gegenüber der Welt, Verantwortung zu übernehmen und sich in einem Dialog auszutauschen. Wie es der vorgestellte Roman zeigt, geht es hier um den Zustand der aktuellen globalen Gesellschaft und das menschliche Dasein unter diesen Umständen, woraus ein Ruf nach einer ethisch geprägten Gesellschaft deutlich wird. An Richards Beispiel als einer Helferfigur werden Tugenden wie Fürsorge und Verantwortung aufgezeigt werden. Damit bildet der Akt des ethischen Schreibens nicht nur die narrative Grundlage dieses Gegenwartstextes, sondern bezieht sich darüber hinaus auch auf einen Dialog zwischen Erzähler und Leser. Bewusst ethisch gefordert wird der Leser, um sich nicht nur über ethische Fragestellungen im Zusammenhang mit den aktuellen Migrationsbewegungen auszutauschen. Der Leser hat die Möglichkeit, sich aus dieser Lektüreerfahrung heraus mit philosophischen Grundhaltungen auseinandersetzen. Interessant erscheinen dabei laut Waldow folgende Aspekte einer narrativen Ethik in Bezug auf die Rückkehr des Autors und eine neue Generation von Texten, die sich wieder auf die Suche nach dem Subjekt machen:

Die gegenwärtige Kunst fühlt sich der Gerechtigkeit gegenüber dem Ausgeschlossenen und Überhörten verpflichtet, es gibt eine Anerkennungstendenz und eine Kultur der Aufmerksam- bzw. Wachsamkeit, die durch die Aufwertung der sinnlichen Wahrnehmung das Latente, Übersehene und Andere hervorbringt. Das Sinnliche als Moment der Wahrnehmung wird zur reflektierten Sinnlichkeit, weil über die Wahrnehmung ethische Paradigmen herausgeholt würden. [...] Mitte der 1990er Jahre gibt es in der Literatur eine Wende vom postmodernen Spiel hin zur Darstellung des bitteren Ernsts. Tatsächlich ist in der philosophischen Debatte der letzten 20 Jahre eine Abwendung von der spielerischen Bejahung des postmodernen anything goes zu beobachten. Wohl als Antwort auf die Orientierungs- und Wertekrise des späten 20. Jhs. entwickeln sich neue Positionen, die in einem global village wieder nach ethischen Orientierungen suchen. Zwei Prämissen sind hier von besonderer Bedeutung: Zum einen scheint nun der ethische Aspekt des linguistic turn in den Mittelpunkt zu rücken. Zum anderen entsenden Autoren mit ihren Texten einen Erzähler, der dem Leser ein Sinnangebot unterbreitet. Jeder Text ist somit als ernsthafte Aufforderung zu verstehen, mit seinen Lesern in einen Dialog eintreten zu wollen. Literatur übernimmt daher keine einseitig belehrende oder moralisierende Funktion mehr, sondern entwickelt gemeinsam mit dem Leser eine Ethik, die an das handelnde Subjekt rückgebunden ist. (Waldow, 2013, pp. 23 und 34-37).

Diese Denkansätze stellen das Gespräch in den Mittelpunkt ihrer ethischen Reflexionen. Sie entwickeln auch ein Bewusstsein für die Notwendigkeit einer dynamischen Auseinandersetzung mit ethischen Fragestellungen. Es zeichnet sich deshalb eine enge Verknüpfung von Subjekt, Sprache und Ethik ab. Der literarische Text wird als Erfahrungsraum verstanden, der individuelle Formen der Selbstbefragung und Selbstinfragestellung erprobt und so die Herausbildung einer narrativen Ethik deutlich macht. Die Begegnung mit dem Anderen erlangt hier verschiedene Bedeutungen: die physische und intellektuelle Begegnung mit dem Fremden aufgrund der Einwanderung von Migranten, Richards eigene Auseinandersetzung mit sich selbst als fremd gewordener Mensch und die Begegnung des Lesers mit Fremdheitserfahrungen im Text. So formuliert Waldow zutreffend, dass Ethik in der Gegenwart vor allem in dem Umstand begründet liegt, das eigene Unwissen, die Leerstelle des Ursprungs, anzuerkennen und diesen Umstand als Bereitschaft und Chance zu verstehen, anders zu werden und dieses Anderssein als Ort ethischen Handelns auszumachen.

An Richards Beispiel zeigt Erpenbeck, wie durch die Begegnung mit dem Anderen eine Veränderung seines Selbst ausgelöst wird und zugleich eine Transformation nach sich zieht. Durch die Beziehung zum Anderen wird ein Prozess in Gang gesetzt, durch den er selbst ein anderer wird. Aus einem passiven Zuschauer wird ein aktiver Begleiter und Helfer, der für die Flüchtlinge immer mehr Verantwortung übernimmt. Über seine Beziehungen zum Anderen findet er schließlich zu sich selbst, wird sich seiner eigenen Unzulänglichkeit bewusst und entfaltet so Menschlichkeit und Verantwortung, indem er gleichzeitig eine vertrauliche Verbindung zum Anderen herstellt, ohne die er nicht existieren könnte. So endet der Roman mit einem vertraulichen und sehr persönlichen Gespräch unter Freunden, zu denen am Ende auch die Flüchtlinge gehören und nun Richard zu verstehen versuchen:

Richard versucht sich an die Zeit zu erinnern, als er für möglich gehalten hat, Christel nicht zu vermissen. Du weißt ja, abends hast sie oft angefangen, mit mir zu streiten, obwohl es gar keinen Grund gab. Warum hat sie mit dir gestritten?, fragt Tristan. Sie hat getrunken. Und der Alkohol hat sie, besonders gegen Abend zu, immer vollkommen verändert. Aber warum hat sie getrunken?, fragt nun Ithemba. Wahrscheinlich, ja, sagt Richard, wahrscheinlich, weil sie unglücklich war. Und warum war sie unglücklich?, fragt Ithemba. Das Orchester, in dem sie gespielt hat, ist aufgelöst worden, sagt Thomas und zieht an seiner Zigarette. Und Richard hat eine Geliebte gehabt, sagt Anne. Sie wollte gern Kinder, sagt Marion. Hat sie dir das erzählt?, fragt Richard. Ja, sagt Marion. Aber du hast doch gesagt, ihr habt das gemeinsam so entschieden, fragt nun Zair, der sich offenbar an das schon so lang zurückliegende Gespräch damals in Spandau erinnert. Sie ist einmal schwanger gewesen, sagt Richard, aber mir war das damals zu früh. Ich war noch nicht einmal fertig mit dem Studium. Ich habe sie überredet, das Kind wegmachen zu lassen. Verstehe, sagt Zair. Ich wollte es nur in dem Moment nicht. Verstehe. Aber es war damals nicht legal. Sie ist zu so einer Frau gegangen. Die hat das auf dem Küchentisch gemacht. Ich hab auf dem Hof unten gewartet. Richard erinnert sich noch gut an den Hinterhof, in dem er gewartet hat. 30 Grad, der heiße Schatten, in dem er stand, neben sich Mülltonnen aus Blech mit krummen Deckeln. Als sie rauskam, sagt er, ist sie beinahe hingefallen, ich musste sie halten, und sie war auf einmal so schwer. Es hat gedauert, bis wir bei der S-Bahn-Station ankamen. Und in der S-Bahn erst hab ich gesehen, wie das Blut an ihren Beinen hinunterlief. Ich hab mich damals geschämt. Ich musste mich um sie kümmern, aber es war mir furchtbar peinlich. Richard schüttelt selbst den Kopf, als könne er selbst nicht glauben, was er da sagt. Warum hast du dich für deine Frau geschämt?, fragt Ali. Ich glaube, dass es mir eigentlich Angst gemacht hat. Angst wovor? Dass sie stirbt. Ja, sagt Richard, ich habe sie in dem Moment dafür gehasst, dass sie vielleicht stirbt. Das kann ich verstehen, sagt Detlef. Damals, glaube ich, sagt Richard, ist mir klar geworden, dass das, was ich aushalte, nur die Oberfläche von all dem ist, was ich nicht aushalte. So wie auf dem Meer?, fragt Khalil. Ja, im Prinzip genauso wie auf dem Meer. (Erpenbeck, 2017, pp. 347-348).

Mit diesem Gespräch, in dem sowohl die Flüchtlinge als auch Richards Freunde als gleichberechtigte Gesprächsteilnehmer zu Wort kommen, setzt sich Richard mit seiner Vergangenheit reflexiv auseinander. Zum Vorschein kommt die dunkle Seite aus seinem Lebensverlauf, die ihn schließlich veranlasst, Verantwortung für sein damaliges Verhalten zu übernehmen, wodurch auch ein ethisches Nachdenken zum Ausdruck kommt. An dieser Stelle thematisiert die Autorin eine Auseinandersetzung mit dem Selbst, was man mit Waldow Worten (2013, p. 50) als eine Generierung des Subjekts bezeichnen kann, das um seine Verwundbarkeit zu kompensieren, Rechenschaft von sich abzulegen beginnt. In Auseinandersetzung mit dem Anderen, in dem Roman ist es vor allem der Kontakt mit den Fluchterzählungen, die Richard in seine eigenen traumatischen Erlebnisse in Narration überführt. Parallel zu den Geschichten der Flüchtlinge, beginnt Richards eigener Prozess der Rekonstruktion, indem er immer wieder von seiner eigenen Vergangenheit erzählt, um zu seiner eigenen Identität zu finden. Mit Waldow können wir deshalb von der Erschaffung eines neuen Wertebewusstseins sprechen, das an ein handelndes und sich selbstbewusstes Subjekt gekoppelt ist, das aus der Gebrochenheit heraus seine Menschlichkeit entfaltet und um die Fragilität der Lebensentwürfe weiß:

Das Subjekt versteht sich als ein beständig zu konstituierendes, als ein Subjekt, das sich seiner eigenen Unvollkommenheit bewusst ist und von dort aus Menschlichkeit und Verantwortung erprobt. Ein Ich schließlich, welches in der Lage ist, sich zum Gegenstand seines eigenen Denkens zu machen. Ein Ich, welches sich in Auseinandersetzung mit dem Diskurs beständig selbst hinterfragt und neu konstituiert. (Waldow, 2013, p. 54).

Anhand Richards Figur wird diese Selbstbildung vorgeführt, die sich vor allem durch die Praktiken des Zuhörens, Schweigens, Schreibens und Erinnerns auszeichnet und schließlich zu einer Umkehr zu sich selbst führt. Ebenso sind die Erfahrungen des Lesens immer auch Erfahrungen, die den Leser mit dem Anderen konfrontieren. Hervorzuheben ist dabei vor allem die Bereitschaft und Fähigkeit zur Aufmerksamkeit sich selbst und dem Anderen gegenüber, hier dem literarischen Text und den Fremdheitserfahrungen Richards, die beim Leser zu einem permanenten Perspektivenwechsel führen und so wie bei Richard die eigene Sichtweise modifizieren und den Horizont des Bekannten beständig verschieben bzw. hinterfragen. Eine neue Betrachtung bekommen bei dieser Art von ethischer Narration die sogenannten Leerstellen, die nun Anlass geben, sich mit dem eigenen Selbst auseinanderzusetzen. Beispielgebend dafür ist im untersuchten Roman ein Satz, den Erpenbeck (2017, pp. 328-329) als alleinstehende Zeile auf zwei aufeinander folgenden Seiten stehen lässt und mit dieser Leere den Leser zur Auseinandersetzung mit der Aussage und sich selbst konfrontiert: Wohin geht ein Mensch, wenn er nicht weiß, wo er hingehen soll?

Der Leser begegnet hier einer Frage nach dem Schicksal vieler Anderen, die nicht das gleiche Schicksal teilen wie er, die ihn aber dazu einlädt, sich damit auseinander zu setzen, ihre Geschichte zu rekonstruieren und einen Anlass für ein ethisches Handeln zu erzeugen. Das Lesen und Schreiben als Orte des Erfahrungsaustausches werden als eine Gelegenheit des Subjekts gesehen, sich selbst zu verändern, wobei die kritische Analyse des Selbst als eine ethische Arbeit verstanden wird. Das Subjekt ist gefordert, durch geistige und körperliche Praktiken ein neues Verhältnis zu sich selbst einzunehmen. Bereits Foucault (1996, pp. 26-43) hat sich diesen sinnlichen Praktiken gewidmet, zu denen er vor allem das Lesen rechnet und es als essentiell betrachtet, weil sie dem Subjekt wieder einen spirituellen Zugang zur Wahrheit ermöglichen. Dadurch wendet sich das Subjekt sich selbst zu, indem es sich dem anderen, hier den anderen Texten, öffnet, diesen zuhört und, mit der Erfahrung dieser Texte ausgerüstet, selbst an sich arbeitet. Dementsprechend sind Bücher für Foucault Erfahrungen, aus denen das Selbst verändert hervorgehen kann und eine Positionierung findet. Jedes Buch, das kein ausgearbeitetes Wertesystem vorgibt, sondern einen Prozess der Erfahrung anbietet, in den der Leser eingebunden wird, kann das Subjekt und sein Denken verändern. Lesen bietet folglich auch eine Möglichkeit der Grenzerfahrung.

Durch Lesen und Schreiben wird das Subjekt in die Lage versetzt, eine Haltung einzunehmen und sich selbst zu konstituieren. Zum anderen wird aber auch deutlich, dass diese Haltung nur in Auseinandersetzung mit dem Anderen, der anderen Stimme, gefunden werden kann. Nach der Lektüre des Romans ist der Leser unter Umständen nicht mehr derselbe wie zuvor und hat ein anderes Verhältnis zu sich selbst und zu den Anderen. Die sinnliche Wahrnehmung d.h. die Haltung, die von ihm eingefordert wird, ist an seine Fähigkeit zu hören und zu fühlen bzw. mitzufühlen gekoppelt sowie an die Bedingung, über diese sinnliche Wahrnehmung zu reflektieren und sie im Wechselspiel mit dem Anderen auszuhandeln. Dies stellt eine Form des Erfahrungsaustausches dar, der im Text selbst vollzogen wird und damit ethische Bedeutsamkeit erlangt.

Auf diese Eigenverstrickung des Lesers mit anderen Geschichten als auch mit dem Erzähler verweist in diesem Sinne Haker (1999, p. 33). Der Leser bezieht sich auf die erzählte Geschichte, die er im Verstehen weiterführt, indem er sie mit anderen Geschichten vergleicht und einen Zusammenhang zwischen Erzähler, Geschichte und sich selbst herstellt. Dazu gehören auch Bilder oder Vorstellungen, die zu weiteren Geschichten, Entwürfen oder Fragen führen können. Wie die Figur Richards deutlich macht, ist der Zugang zum Selbst über verschiedene Geschichten komplex, denn vieles findet gleichzeitig statt oder erfolgt diskontinuierlich, steht ihm zum Teil noch nahe, obwohl es bereits weit fern stattgefunden hat, ist trotzdem von ihm unabtrennbar, auch wenn er es zu verdrängen versucht hat. Immer wieder wird er sich der Eigenverstrickung bewusst und kann ihr nicht entkommen, denn die subjektive Zeit als Zeitbegriff und-verlauf, die wiederholt thematisiert wird, unterliegt anderen Gesetzen als die naturwissenschaftlich erfassbare Zeit. Der Roman beginnt mit dieser Reflexion und macht deutlich, dass vergangene Ereignisse in ihrer Bedeutsamkeit gegenwärtiger sein können als gerade vorgefallene Geschehnisse: Richard hat jetzt viel Zeit. Was fängt er jetzt mit dem Kopf an? Mit den Gedanken, die immer weiter denken in seinem Kopf? Die Zeit ist jetzt eine ganz andere Art von Zeit (Erpenbeck, 2017, pp. 9-10).

Hakers (1999, pp. 165-172) Theorie der Literaturethik bietet in dem Zusammenhang für die Literatur als Medium ethischer Reflexion wichtige Erkenntnisse bezüglich des Erzählen. So gesehen, impliziert jede Erzählung eine wertende Perspektive, gibt dem Erzählten eine besondere Wichtigkeit, die es erzählenswert erscheinen lässt und wird zu einem Seismographen der jeweiligen Zeit. Die darin vorkommenden Lebensgeschichten sind immer unabgeschlossene Geschichten, die durch neu eintretende Ereignisse wieder umgeschrieben werden müssen. Moralische Wertungen, die mit dem Erzählten einhergehen und Erzählungen jeder Art bedürfen deshalb von Seiten der Rezipienten einer kritischen und reflexiven Perspektive, was Erpenbeck mit Richards Gedankenwelt dem Leser immer wieder vorführt.

3. Didaktische Vorschläge

Mit dem hier gesuchten Fremdverstehen als eine mehr als jemals geforderte interkulturelle Kompetenz steht auch die damit untrennbar verbundene Infragestellung eigener Positionen im Vordergrund, da sie zu einem Perspektivenwechsel führen soll, der durch das Nachvollziehen fremder Beziehungsmuster erfolgt. Diese aktuellen Konzepte zur Rolle der Literatur (Altmayer, Dobstadt, Riedner, Schier, 2014, p. 7) in der Bildung von Weltbürgern lassen folgende Grundannahmen erkennen: Literarische Texte ermöglichen ihrem Leser Erfahrungen, die für seine persönliche Entwicklung und seine Interaktion mit der Gesellschaft von hoher Bedeutung sein können. Einerseits führt diese Literatur zu einer veränderten Wahrnehmung von Sprache und Kommunikation, andererseits ist im Zeichen einer kulturwissenschaftlichen Neuorientierung wieder verstärktes Interesse für Literatur als Reflexionsmedium kultureller Inhalte entstanden und ihr Einsatz kann auf Schlüsselthemen von globaler Relevanz ausgerichtet werden. In diesem Sinne hat sich auch Navajas bezüglich der der spanischen Erzählliteratur im globalen Zeitalter ausgesprochen:

Hay otra versión de la globalización que la vincula conceptualmente con el proyecto inacabado de la modernidad para el que la dimensión ética e igualitaria de la historia adquiere prioridad sobre consideraciones más concretas. Ese concepto de lo global tiene ramificaciones para la literatura ya que implica una visión transnacional del hecho literario que supera el modelo historicista nacional. (Navajas, 2002, p. 15).

In diesem Sinne ermöglicht transkulturelle oder Migrationsliteratur die Aneignung und Nutzung von persönlich und gesellschaftlich bedeutsamen Sichtweisen der Wirklichkeit (im Sinne von Menschen- und Weltbildern), die für den Leser oder sogar für seine Kultur neu sein können und ihm auf literaturspezifische Weise angeboten werden. Diese Bestimmung kann so verstanden werden, dass Literatur nützen und erfreuen, also dem Leser (moralische) Lehren oder Wissen in einer unterhaltsamen oder ästhetisch ansprechenden Verpackung nahebringen soll. Die Texte können an Sichtweisen der Wirklichkeit einschließlich von Werten und Normen heranführen. Das Lesen gewinnt damit eine pädagogische Funktion, wobei unter anderen folgende Kompetenzen zur Anwendung kommen:

Die reflexive Kompetenz als die Fähigkeit, sich mit Texten kritisch und/oder kreativ auseinander zu setzen und sie zu kommentieren, zu bewerten, zu beurteilen, zu bearbeiten und zu vergleichen.

Die kommunikative Kompetenz als die Fähigkeit und Bereitschaft, sich über Gelesenes und mit Hilfe von Texten mit anderen Personen auszutauschen.

Das Lesen unterstützt die Fähigkeit zur Imagination als die Möglichkeit, unterschiedliche Perspektiven einnehmen zu können und zur Entwicklung von Empathie und Kreativität.

Guerrero y Caro (2015) sprechen sich folgendermaßen hinsichtlich der hier dargestellten und im Unterricht umgesetzten Ziele im Hinblick auf ein adäquates Textverstehen:

Para ello se prestan aquellos textos en la enseñanza de la literatura que ofrecen una visión nueva e inusual de una realidad desconocida. Dado que la experiencia estética siempre está fuertemente influenciada subjetivamente, se llevará a cabo también un enfrentamiento con la propia identidad durante el aprendizaje estético. En el proceso de la percepción e imaginación estética se estimula una reflexión sobre la propia identidad y actitud a través de la confrontación con otras perspectivas. A fin de cuentas, con estos propósitos en el empleo de la literatura buscamos una auto-revelación, auto-comprensión o un desarrollo personal. Así, la comprensión de la literatura se entiende como un proceso que no puede reducirse a las habilidades de comprensión de análisis cognitivas, sino que incluye la comprensión subjetiva emocional. (Guerrero y Caro, 2015, p. 31).

Transkulturalität, Migration und globale Entwicklungen treten hier als Themen und Motive von Literatur auf, die als ein Medium für Empathie und Solidarität eine neue Relevanz erlangt. Wie der besprochene Roman zeigt, zeichnet sich Literatur aus durch ihre Eignung, politische und soziale Beziehungen in einer verständlichen, weil an individuellen Schicksalen festgemachten Form darzustellen. Bezüglich eines didaktischen Vorgehens möchte ich ein adäquates literarisches Verstehen als eine persönliche Annäherung an das Fremde vorstellen, mit dem Ziel, im Laufe dieser Auseinandersetzung eine Veränderung bei den Lernenden zu bewirken. Diese Annäherung stellen wir am Beispiel der vier Phasen nach Wintersteiner (2006, p. 129) vor:

1. Erste Begegnung mit dem Text und spontane Interpretationsversuche als wichtigste Phase. Es kommt darauf an, das eigene Befremden äußern zu dürfen, sich die Irritation, die vom Text ausgeht, bewusst zu machen und eigene Interpretationsentwürfe zu wagen.

2. Die Phase der Objektivierung: Verunsicherung des ersten Verstehens durch Konfrontation mit anderen Sichtweisen.

3. Die Phase der Aneignung der reflektierten Subjektivität: Ein Zurückwenden auf sich selbst soll eine kritische Verarbeitung der Eindrücke aus Phase 2 erlauben. Die Infragestellung der eigenen Existenz, in welche die Fragestellung an den Text im gelingenden Fall umschlägt, soll zu neuen Einsichten, Einstellungen, Wahrnehmungs- und Denkweisen, Selbstinterpretationen führen.

4. Die Phase der Applikation: Anwendung auf die eigene Lebenssituation, zum Beispiel als Entwicklung neuer Fragestellungen.

In mehreren didaktischen Arbeiten werden diese Fähigkeiten zur Aneignung und Applikation als Fiktions-Realitäts-Bezugskompetenz aufgefasst (Nickel-Bacon, 2003). Als Grundlage insbesondere für die hier skizzierte Literaturanwendung erscheint mir entsprechend dieser didaktischen Auffassung eine Erweiterung des Textverstehensmodells geeignet, die die folgende Trias in den Mittelpunkt stellt:

(1) Zentrale Textelemente (und ihre Zusammenhänge) erkennen

(2) diese Elemente deuten und

(3) die so entstandene Deutung auf Wirklichkeit beziehen

Mit Paeffgen (1999, p. 49) stimme ich deshalb überein, dass diese Wechselwirkung und die gegenseitige Beeinflussung von Literatur und Leben, letztendlich als Lernerfolg gewertet werden kann.

In diesem Sinne schließe ich diese Ausführungen mit den treffenden Worten von Wintersteiner bezüglich einer transkulturellen Literaturdidaktik als Perspektivenwechsel und einem Beitrag zu einer weltbürgerlichen Erziehung:

Erst eine transkulturelle Literaturdidaktik stellt sicher, dass literarische Fremderfahrungen im vollen Wortsinn gemacht werden können, eine Voraussetzung dafür, Fremderfahrungen des Alltags zu reflektieren und einzuordnen. Die Lernenden mit anderen Kategorien und fremden Problemen zu konfrontieren, die sie noch nicht zur Kenntnis genommen haben. Dies schließt auch das Nachdenken über das Phänomen Fremdheit selbst ein. Die literarische Begegnung hat zum Ziel, politische und kulturelle Machtverhältnisse sichtbar zu machen und die Lernenden anzuregen, sich über ihre eigene Position in diesem Machtspiel Gedanken zu machen. Langfristig soll damit ein Beitrag zu einer kritisch-weltbürgerlichen Erziehung geleistet werden. (Wintersteiner, 2006, p. 137).

Wie man leicht erkennen kann, geht es im Wesentlichen um die beiden Aktivitäten des Perspektivenwechsels und der Perspektivenübernahme. Denn solange wir einen Text oder die Handlung eines Menschen nur von unserer eigenen Außenperspektive betrachten, ist Fremdverstehen nicht möglich. Wir müssen zumindest einen Moment lang unsere eigene Sichtweise aussetzen, die fremde Perspektive, die Innenperspektive, einnehmen, wodurch es zu einem Dialog der Perspektiven kommen soll. In jedem Fall lernen wir durch die vorübergehende und bedingte Übernahme fremder Perspektiven, die Perspektivengebundenheit jeder Erfahrung zu verstehen und beginnen damit, unseren eigenen Standpunkt zu relativieren. Eine ethische Interpretation wird schließlich angestrebt, die anhand von folgenden Fragen, wie sie von Haker (1999, p. 175) vorgeschlagen werden, geleitet werden kann:

Wer spricht in dem Text? Mit dieser Frage werden die verschiedenen Perspektiven des Textes geklärt.

Welche Erzählperspektiven werden eingenommen? Spricht der Text als Selbsterfahrung oder als Reflexion?

Von der Erzählperspektive hängt ab, wie man als Leser auf einen Text reagieren soll, denn er wird in seiner Haltung ihm gegenüber weitgehend gelenkt.

Wie werden die handelnden Personen gezeichnet? Wird ein ganzheitliches Bild der Person gezeichnet, in dem Vernunft und Gefühle, die Selbstwahrnehmung und Wünsche vermittelt werden? Die inhaltliche Interpretation soll die dargestellten Werteordnungen, die Konflikte und Dilemmas, die sich in den Handlungssituationen ergeben, kritisch beleuchten und mit dem theoretischen Wissen konfrontieren.

Zum Roman konkret wurden folgende Arbeitsaufträge durchgeführt:

Was erfährt der Leser über Richard, seine Beschäftigungen, Gedanken, sein Leben? Immer wieder verbindet die Autorin seine Gegenwart mit der nahen und fernen Vergangenheit, was erfahren wir darüber?

Richard erkennt den Zusammenhang von Raum, Zeit und Dichtung sowie der Relevanz von Erinnerung. Wie kommt er dazu? Fallen Ihnen dazu auch persönliche Beispiele ein?

Aus Richards Perspektive werden verschiedene Unterschiede zwischen den einen und den anderen angesprochen. Wie wird dadurch die Aufmerksamkeit des Lesers gelenkt? Beschreiben Sie die Entwicklung Richards, die er im Laufe des Romans durchläuft und sammeln Sie dazu Informationen:

Daten zur Person: Alter, Herkunft, Äußerlichkeiten, Beruf, gesellschaftlicher Status und andere Merkmale, die das Umfeld und die Figur näher charakterisieren.

Verhalten der Figur: Wie verhält sich die Figur? Wie spricht sie und gibt es dabei Auffälligkeiten? Gibt es innere Konflikte, wichtige Ansichten oder bestimmte innere Konflikte?

Entwicklung der Figur: Hat Richard sich im Laufe der Erzählung verändert? Hat er seine Ansichten über den Tisch geworfen und verhält sich am Ende anders als zu Beginn? Wie verläuft der Gedankengang? Wie entwickelt sich die Situation? Gibt es eine Handlung, Wendepunkte, Motive, die sich durch den Text ziehen?

Schreiben Sie Ihre Gedanken zum Begriff Fremdsein auf.

Thema/Problem: Um welches Thema/Problem geht es? Was signalisiert bereits der Titel? Welche genaue Bedeutung haben die drei grammatikalischen Zeiten: Gehen, ging, gegangen? Was möchte der Titel damit ausdrücken? Welches Zeitverständnis wird hier deutlich? Welche Zeiten benutzt die Autorin und welche Bedeutung haben sie im Leben der Hauptfigur und der Flüchtlinge?

Welche Gedanken und Gefühle entstehen bei Ihnen beim Lesen?

Lesen Sie das Interview mit der Autorin1. Was erfahren Sie über die Entstehung dieses Buches, den Vorgang des Schreibens, über Erkenntnisse, die die Autorin gewonnen hat? Wie wird die Rolle der Medien im Buch bewertet?

Mögliche Themenschwerpunkte zum Roman können erarbeitet werden:

Welche Themen verbindet die Autorin im Roman? (Der Identitätsverlust bei Migranten, die ostdeutsche Geschichte als Erinnerung und Irritation, unterschiedliche Alltagswelten, Familiengeschichten, die Angst. Wie geht man im Leben mit einem schwierigen Übergang um? Stellen Sie kurz die Bezüge zum Roman her und dann zu sich selbst. Inwiefern finden Sie sich in Richards Figur wieder und welche Entwicklung haben Sie als Leser gemacht?

Richard beschäftigt sich mit dem Thema der Landnahme in Afrika, was für ihn neu ist. Informieren Sie sich darüber und setzen Sie es in Bezug zu dem Buch. Was sagen Ihnen die Begriffe Dublin II, Rückführung, Abschiebehaft, Asylrechtsverordnungen. Was wissen Sie dazu über die Migrationspolitik in Deutschland als auch in Ihrem Land, den Familiennachzug für Flüchtlinge mit eingeschränktem Schutzstatus? Informieren Sie sich.

Welche Schauplätze werden genannt? Was verbinden Sie mit Berlin? Recherchieren Sie die wichtigsten Stationen in der Geschichte Berlins, die genannt werden? Wann entstand die DDR, was bedeuten Begriffe wie der volkseigene Staat oder die russische Zone?

Welche Fragen aus dem Text würden Sie für sich selbst als relevant herausstellen?

Welches Thema oder Motiv aus dem Roman würden Sie für sich selbst weiterverfolgen und mehr darüber wissen wollen? Welche Rolle hat der Erzähler im Text und welche Wirkung hat diese Art des Erzählens auf den Leser? Welche Sicht von Wirklichkeit oder welches Menschen- und Weltbild legt der Text dem Leser nahe?

Bereiten Sie ein Referat zur Migrationsgeschichte in Deutschland seit 1960 vor: Phasen der Migration, Wandel der Begrifflichkeit (Gastarbeiter, Ausländer, Personen mit Migrationshintergrund), die Einwanderungsgeschichte, Gründe der Migration (z. B. Arbeitsuche, Rückkehr nach der Vertreibung im Zweiten Weltkrieg, das Asyl, Familienzusammenführung), die Herkunftsländer der Migranten, Gesetzgebung (z. B. doppelte Staatsbürgerschaft, Zuwanderungsgesetze) sowie die damit zusammenhängenden aktuellen Konflikte.

4. Abschlussbetrachtungen

Die dargestellte didaktische Auseinandersetzung mit Erpenbecks faktisch fiktionalem Roman zeigt Möglichkeiten, wie eine ethisch fundierte Haltung durch die reflektierte und multiperspektivische Beschäftigung mit dem kulturell Anderen in Vergangenheit und Gegenwart entwickelt werden kann. Dieses Beispiel von aktueller Migrantenliteratur rückt das ethische Bewusstsein und die Würde des Subjekts in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Damit ist auch die Erschaffung eines neuen Wertebewusstseins an einen Leser gekoppelt, der in die Verantwortung genommen wird. Anhand dieses Textes wurden nach Waldow (2013, p. 197) folgende Tendenzen bezüglich der Ethik und Narration in der Literatur der Gegenwart deutlich gemacht und die somit als Basis für ein reflektiertes Nachdenken über Möglichkeiten und Grenzen ethischer Narrative in gegenwärtigen Texten dienen können:

Die Haltung, welche das Subjekt im Diskurs bereit ist einzunehmen, bietet einen Gegenpol zu der aus der Postmoderne resultierenden Orientierungslosigkeit, hilft aber auch, die eigene Identitätslosigkeit produktiv zu wenden. Haltung wird hier verstanden als beständiges Austarieren der Grenzen und Möglichkeiten des menschlichen Daseins. Dieses Austarieren der eigenen Verfasstheit findet in stetiger Auseinandersetzung mit dem Anderen statt. Der Begriff des Anderen ist in seiner Offenheit ein bewusst gewählter 'ethischer' Begriff, der vielfältige Konnotationen in sich trägt. Der Leser wird durch diese Art von Literatur, die ihn befremdet, aufgefordert, über seine eigenen Fremdheitserfahrungen zu reflektieren, denn jede Begegnung mit Anderen, erst recht mit kulturell Anderen, bedeutet eine Dezentrierung, eine Infragestellung der gewohnten Sichtweisen, Gewohnheiten, Denk- oder Fühlweisen. Die Infragestellung enthält eine Herausforderung oder zumindest eine Begegnung mit dem Anderen, wodurch das Selbstverständliche seinen Charakter als Selbstverständliches verliert und einer größeren Bewusstheit weicht.

Der Lerner als Leser soll somit seine Weltsicht neu oder differenzierter wahrnehmen und möglicherweise auch seine Einstellungen oder sogar seine Verhaltensweisen verändern. Vor allem durch den ästhetisch ethischen Umgang mit Literatur kann er seine Vorstellung und sein Verständnis von Identität und sein Fremdverstehen, als auch allgemein seine Haltungen zur Gesellschaft weiterentwickeln. Diese Art von Erschließung eines literarischen Textes ist mit einem Bezug auf die Lebenswirklichkeit letztlich sehr lohnend, denn der Lerner soll in der Deutung subjektive Ergänzungen an den Text herantragen und so seine Beziehung zur Wirklichkeit erfahren. Als eine Bereicherung wird hier erachtet, wenn eine genaue Textanalyse und- Auseinandersetzung mit dem alltagsweltlichen Erfahrungshorizont verknüpft werden. Der Literaturunterricht, der im Zuge der Rezeptionsästhetik eine sich gegenseitig befruchtende Wirkung von Literatur und Alltag angestrebt hat, wird so in den Dienst einer sozialen Menschenbildung gestellt mit der Hoffnung, auf eine über den Unterricht hinausreichende Wirkung von Literatur.

Bibliographie

Altmayer, C., Dobstadt, M., Riedner, U. R. und Schier, C. (Ed.). (2014). Literatur in Deutsch als Fremdsprache und internationaler Germanistik. Tübingen: Stauffenburg.

Erpenbeck, J. (2017). Gehen, ging, gegangen. München: Albrecht Knaus.

Foucault, M. (1996). Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Guerrero Ruiz, P. und Caro Valverde, M. T. (Koord.). (2015). Didáctica de la Lengua y Educación. Madrid: Pirámide.

Haker, H. (1999). Moralische Identität. Tübingen: A. Francke.

Münkler, H. (Ed.). (1997). Furcht und Faszniantion. Facetten der Fremdheit. Berlin: Akademie Verlag.

Navajas, G. (2002). La narrativa española en la era global. Barcelona: EUB.

Nickel-Bacon, I. (2003). Authentizität in der literarischen Kommunikation: Anthropologische, poetologische und didaktische Aspekte. [pdf]. URL: https://www.germanistik.uni-wuppertal.de/fileadmin/germanistik/Teilf%C3%A4cher/Didaktik/Personal/Nickel-Bacon/Nickel-Bacon_Authentizit%C3%A4t.pdf

Paeffgen, E. K. (1999). Einführung in die Literaturdidaktik. Stuttgart: J.B. Metzler.

Waldenfels, B. (1997). Topographie des Fremden. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Waldow, S. (2013). Schreiben als Begegnung mit dem Anderen. München: Wilhelm Fink.

Wintersteiner, W. (2006). Transkulturelle literarische Bildung. Innsbruck: Studien Verlag.

Fußnote

1 https://www.dw.com/de/jenny-erpenbeck-man-muss-die-angst-verlieren/a-18723776
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